Mit KPIs zum nächsten Hit Wie Big Data die Musikindustrie transformiert
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Mal eben die Werbetrommel rühren, das garantiert noch nicht den Markterfolg. Das gilt umso mehr für Branchen, in denen die Mitbewerber nur einen Klick entfernt sind. Kürzlich hat die Musikindustrie die transformative Kraft von Big Data entdeckt – und auch bereits beinahe zur wahren Kunst erhoben.

Big Data hatte sich in einer Vielzahl von Branchen als die Quelle der Business Intelligence (BI) bewähren können, noch lange bevor die Musikindustrie auf den Geschmack kam. Aus dem Nachzügler wurde bald ein Vorreiter. Vom Talent-Scouting über die Produktion bis hin zur Promotion: In der milliardenschweren Branche fällt keine relevante Entscheidung der Musik-Labels ausschließlich nach dem Bauchgefühl.
„Die Musikindustrie wird immer stärker datengetrieben“, sagt Ankit Desai, Gründer von Snafu Records. „Unsere proprietären Algorithmen analysieren Millionen von Datenpunkten in über 150.000 Songs pro Woche, um die wenigen Künstler zu finden, die mit ihrer Musik einen großen kulturellen Einfluss haben können“, so schildert das Unternehmen seinen Ansatz auf der eigenen Webseite, und resümiert: „Snafu ist eine Musikfirma für das 21. Jahrhundert.“
Big Data sei „die neue Währung der Musikbranche“, bestätigt John Kohl, Mitbegründer und CEO bei TuneGO, dem Betreiber einer gleichnamigen Musik-Vertriebsplattform aus dem U.S.-Bundesstaat Nevada.
Ohrwürmer per Big Data finden
Als das britische Start-up Instrumental unter der Leitung von Conrad Whitney, dem ehemaligen Präsidenten der Warner Music Group, im März 2018 satte 4,2 Millionen US-Dollar für das Mining von Streaming-Sites zusammentrommeln konnte, wurden A&R-Departments (Artists & Repertoire-Abteilungen) plötzlich hellhörig. Auf einmal war es klar: In Big Data schlummert ungekanntes Marktpotenzial und dieses lässt sich offenbar ausloten. Heute ist das Unternehmen eine Milliarde US-Dollar wert. Die TalentAI-Plattform von Instrumental entdeckt und verfolgt die Leistung von über 250.000 Indie-Künstlern der Welt; Big Data macht es möglich.
Kapitalspritzen in Millionenhöhe stellen nur eine vergleichsweise kleine Investition dar für eine Branche, die sich immer recht bombastisch selbst zelebriert. Langsam macht die Erkenntnis von der Bedeutung von Big-Data-gestützter Intelligenz auch in „kreativen“ Abteilungen der Musiklabels die Runde. Dann ging es in der Branche Schlag auf Schlag.
Was der britischen Musik-Industrie recht war, war den Talentsuchern in den USA billig. Der US-Teil der Warner Music Group kam mit der Akquisition des Start-ups Sodatone in den Besitz einer proprietären Big-Data-Plattform. Die Technologie kann anhand von Streaming-, Social Media- und Musiktour-Daten die frühen Anzeichen auf den Erfolg eines Künstlers aufspüren. Metriken rund um die Loyalität und das Engagement der Fangemeinde sowie die potenzielle Viralität eines Tracks oder eines Musikvideos lassen frühzeitig auf das Marktpotenzial der Werke schließen.
Transformative Einblicke
Das Big-Data-gestützte Scouting-Tool von Sodatone bietet den Entscheidern auch Einblicke in die Reaktion des Publikums auf Werke etablierter Künstler und Songwriter. Die beiden Mitgründer von Sodatone, Jerry Zhang und Arjun Bali, hatten in der Musikindustrie schon Vieles erlebt. Sie schickten sich bald an, ihre Technologie auch in die Musikproduktion einzubringen, damit die „kreativen Köpfe“ der Branche aus Big Data möglichst frühzeitig neue Inspiration schöpfen. „Wir schaffen ein unternehmerisches Umfeld, in dem Kunst und Technologie zusammen aufblühen können,“ freut sich Max Lousada, der Geschäftsführer für Recorded Music bei der Warner Music Group.
Inzwischen ist der Big-Data-Trend auch im globalen Maßstab nicht mehr aufzuhalten. Utopia Music, ein schweizerisch-schwedisches Technologieunternehmen mit Sitz in Zug, nutzt Big Data, um die Nutzung von Musiktiteln und die Wahrnehmung von Musikrechten nachzuverfolgen.
Denn die Musikindustrie zerstöre sich selbst. Bis zur Ausschüttung der laufenden Erlöse in Höhe von 50 Milliarden US-Dollar pro Jahr an die – hoffentlich tatsächlichen – Inhaber von Musikrechten können bis zu fünf Jahre ins Land gehen, bejammert das Unternehmen auf seiner Webseite. Geld ginge wegen zahlloser Anwälte, Buchhalter und veralteter Systeme verloren. Jedes Jahr würden weitere Einnahmen in Höhe von schätzungsweise weiteren 50 Milliarden US-Dollar nicht gemeldet und nicht eingezogen. Big Data sei die Antwort.
Die Vision von Utopia Music zielt darauf ab, die globale Musikindustrie durch höhere Einnahmen, niedrigere Kosten, beschleunigte Zahlungszyklen und verbesserte Einblicke Künstler-freundlicher zu gestalten. Das Unternehmen möchte ein Ökosystem geschaffen haben, in dem Musik und Technologie die Kreativität und den Genuss fördern würden.
Offenes Protokoll für die Erfassung von Musiktiteln
Mit der Utopia Open Platform (UOP) entstand ein offenes Protokoll für die Erfassung von Musiktiteln und die Zuweisung von Musikrechten. Utopia Music möchte das Ökosystem durch eine Reihe leistungsstarker Anwendungen ergänzen, die sich eben diese Metadaten zunutze machen können, um Transparenz, Effizienz und Gerechtigkeit zu erzielen.
Die weltweite Plattform von Utopia Music sammelt dahingehend zeitgestempelte Musikkonsumdaten über die Titel in seinem Katalog. Dank dieser Daten sollen die Nutzer des Systems mithilfe von Analysetools die Einnahmequellen überwachen und Zahlungsflüsse verfolgen können. Digitale Touchpoints umfassen eine mobile App, ein Web-Dashboard und APIs für die Erstellung detaillierter Berichte. Das Geschäftsmodell basiert auf einem Freemium-Monetarisierungsmodell mit optionalen Mehrwert-Abonnements. Das System soll derzeit über eine Milliarde Musikkonsum-Ereignisse pro Tag verfolgen – in Echtzeit.
Auf Talentsuche mit KI
In der ersten Dekade nach der Jahrtausendwende hat die Musikindustrie einen massiven Zusammenbruch erlitten. Die Umsätze der Labels stürzten ins Bodenlose, im Querdurchschnitt der Branche um 50 Prozent. Erst das On-Demand-Streaming und später Musik-Abos brachten in nur rund vier Jahren mit zweistelligen Wachstumsraten pro Jahr die Wende. Jetzt steht die Industrie vor einer neuen Herausforderung: der zunehmenden Marktfragmentierung. Big Data soll Abhilfe schaffen.
Zwischen einer Handvoll erfolgreichster Musik-Stars und dem „long tail“ – den vielen, immer noch talentierten, aber kaum bekannten, aufstrebenden Darstellern – liegen im Hinblick auf das Umsatzpotenzial im globalen Maßstab jährlich mehrstellige Millionenbeträge dazwischen. (Die bildhafte Long-Tail-Metapher der Marktverhältnisse entstammt übrigens dem gleichnamigen Buch von Chris Anderson.)
Eine Million US-Dollar pro Stunde
Die drei wichtigsten Musik-Labels generieren mit Streaming-Diensten rund eine Million US-Dollar pro Stunde, schätzen die Analysten von Music Business Worldwide. Knapp genauso viel erwirtschaften die drei Labels über alle anderen Vertriebskanäle zusammengenommen, enthüllt Rolling Stone.
Flops können für ein Label schnell teuer werden. Teurer sind aber auch die laufenden Bemühungen, die Hits und Flops auseinander zu halten. Diese Ineffizienzen gehen für die Labels mit schätzungsweise 4,8 Milliarden US-Dollar pro Jahr ins Geld. Das Versprechen von mehr Umsatz und weniger Flops macht die Investoren hellhörig.
Mit 7,7 Millionen US-Dollar hat die Private-Equity-Firma Falcon Capital die Entstehung der Musikentdeckungsplattform TuneGO ermöglicht. TuneGO unterstützt Musiker mit Tools für die Karriereentwicklung, mit personalisierten Diensten und Bildungsressourcen und sammelt im Gegenzug Daten, um geeignete Künstler an Labels zu vermitteln.
Ein kleines kalifornisches Start-up namens Snafu Records aus Los Angeles möchte lieber das Schicksal der Musik in die eigenen Hände nehmen. Das Unternehmen versteht sich als „das erste KI-fähige Full-Service-Plattenlabel“. Der Snafu-Ansatz, sagt CEO Ankit Desai, würde im Wesentlichen „jeden, der Musik hört, in einen Talentscout verwandeln.“
Die Algorithmen von Snafu Records untersuchen angeblich rund 150.000 Titel pro Woche Indie-Künstlern auf Diensten wie YouTube, Instagram und SoundCloud und bewerten die Musikwerke anhand des Hörer-Engagements, der Hörer-Stimmung und gewisser Merkmale der Musik selbst. Die Algorithmen suchen dabei nach Titeln mit KPIs, die zu 70 bis 75 Prozent denen der Songs aus der Top-200-Liste von Spotify ähnelten (damit sie sich von jenen auch noch unterscheiden würden). Die resultierende Wertung erlaubt eine Vorauswahl aus 15 bis 20 Kandidaten pro Woche. Für die finale Auswahl zeichnet dann das menschliche Team verantwortlich.
Die Musikindustrie befinde sich gerade in einem „tektonischen Wandel“, kommentiert Hampus Monthan Nordenskjöld, Gründungspartner von TrueSight Ventures, einem der Kapitalgeber von Snafu Records. Die transformative Natur von Big Data wälzt die Musikindustrie anscheinend doch noch um.
Fazit
Big Data ist das „neue Öl“ der Musik-Industrie. Datenanalyse hat das Talent-Scouting „demokratisiert“. Big-Data-getriebene Streaming- und Vertriebs-Plattformen wie Spotify haben dem einen oder anderen Musiker den Weg in die obere Liga geebnet. Anstatt einzig und allein auf das Bauchgefühl einer Handvoll von Entscheidern zu wetten, machen die Labels jetzt mit Big Data ernst: Sie „hören“ mal einfach auf ihre Zielgruppe.
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