Nachbericht Microsoft Envision Forum: Manufacturing 2019 Künstliche Intelligenz beflügelt die Industrie
In Deutschlands Industrie erhofft man sich von KI/ML-getriebenen neuen Geschäftsmodellen und Prozessen viel. Die produzierenden Unternehmen, die das Herz des wirtschaftlichen Erfolgs dieses Landes bilden, sollen damit ihre weltweit führende Rolle auf vielen Gebieten trotz Konkurrenz aus den USA und Fernost weiterspielen können. Wie das mithilfe von Microsoft gelingen könnte, darum ging es beim Microsoft Envision Forum: Manufacturing im November in München.
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Rund 290 Anwender hatten den Weg in den industriegeprägten Münchner Norden gefunden. In einem zur Eventlocation umfunktionierten Kesselhaus konnten sich die Besucher über Microsofts industriebezogene ML/KI-Konzepte, -Services und -Produkte sowie deren Integration und Anwendung auf Prozesse und Geschäftsmodelle informieren. Es war die dritte derartige Veranstaltung, die beiden vorigen hießen allerdings noch Industrietag.
Zu sehen gab es eine Ausstellung, auf der sich Microsoft-Partner mit ihren KI/ML-basierten Tools, Services oder Beratungsleistungen präsentierten, ergänzt durch Vorträge von Microsoft, Anwendern und Beratern. Im Mittelpunkt standen dabei die praktische Nutzbarkeit und Skalierbarkeit von KI-Projekten.
Denn Anwender brauchen reale Erfolgsbeispiele, die dazu ermutigen, die richtigen Schritte zu tun. Schließlich endet längst nicht jedes Projekt in einem rauschenden Erfolg. Davon zeugt eine auf der Veranstaltung präsentierte aktuelle Studie von McKinsey. Ihr zufolge gibt es zwar inzwischen jede Menge KI-Projekte, doch erreichen nur knapp 30 Prozent die Skalierungsphase. Der Rest bleibt aus diesem oder jenem Grund im Pilotstadium stecken.
Ein langer Weg
Weitere erschreckende Daten: In 28 Prozent der Unternehmen dauern Pilotierungsphasen mehr als zwei Jahre, mit weniger als einem Jahr kommen nur 15 Prozent der Befragten aus. 31 Prozent müssen mehr als drei Plattformen aufwendig ausprobieren, bis es klappt.
Funktioniert die angedachte Lösung dann endlich, winken durchaus Erfolge. Das zeigen 26 KI-Vorzeigeprojekte, die vom WEF (World Economy Forum) ausgewählt wurden. Die Basis der Auswahl waren Projekte aus 1.000 Fertigungsunternehmen, von denen 76 in eine engere Wahl kamen.
Fazit: Der Output der Produktionsanlagen stieg dort durch KI/ML & Big Data zwischen 6 und 200 Prozent und die Gesamtproduktion legte zwischen 3 und 160 Prozent zu. Die Qualitätskosten sanken um 5 bis 90 Prozent. Die Lagerhaltung nahm um 10 bis 90 Prozent ab, Time to Market um 30 bis 90 Prozent und die kundenspezifische Losgröße schrumpfte um 50 bis 90 Prozent.
Beispiel Bizerba
Besonders interessant sind derzeit Optimierungen von Lieferketten. Dafür zwei Beispiele: Bizerba ist seit 180 Jahren spezialisiert auf das Thema Gewichtsfeststellung und steckt heute 10 Prozent seines Investitionsbudgets in ungewöhnliche Ideen. Auf der Microsoft-Veranstaltung wurde das traditionsreiche Familienunternehmen, das 4.500 Mitarbeiter beschäftigt, nun für eine Innovation mit einem Preis geehrt.
Das preisgekrönte, KI/ML-gestützte neue Geschäftsmodell soll das Problem der Lebensmittelverschwendung reduzieren. Gleichzeitig ermöglicht es dem Unternehmen, sich von einem Produkt- stärker zu einem Serviceanbieter hin zu entwickeln. Im Kern besteht die Lösung darin, Wägetechnik in Regale zu integrieren und damit letztlich Bestell- und Preisfindungsprozesse zu automatisieren.
Mit einem Algorithmus, der den aktuellen Schwerpunkt des Regals ermittelt, und im Regal befindlichen Sensoren kann Software genau erkennen, in welchem Fach sich noch wie viel Ware befindet und wie viel entnommen wurde. Die Daten, die in die von Bizerba entwickelte Smart Shelf Application auf MS Azure fließen, lassen sich beispielsweise durch öffentlich zugängliche Informationen zu Zeit, Wetter oder Social-Media-Auswertungen ergänzen. So kann die App dem angeschlossenen Händler empfehlen, bestimmte Artikel zu einem bestimmten Zeitpunkt zu einem bestimmten günstigeren Preis anzubieten, was den Absatz bis Ladenschluss erhöht und Reste verringert. Auch die Nachbestellung lässt sich so optimieren.
Paul Hartmann: (Fast) exakte Bedarfsprognose
Beispiel Nummer 2 stammt von der Paul Hartmann AG. Das Unternehmen ist seit gut 200 Jahren am Markt und auf Wundbehandlung, Desinfektion und – dank des demografischen Wandels – zukunftsträchtige Thema Inkontinenz spezialisiert. Ein interessantes KI-Projekt setzt am Bestell- und Bestandmanagement in Krankenhäusern an.
Laut CEO Sinaudin Omerhodzic tragen hier altbackene, händische Prozesse viel zu den hohen Krankenhauskosten bei. Bestellprozesse vom Krankenhaus an seine Lieferanten kosten laut Omerhodzic oft dreistellige Beträge. Das soll sich ändern: Hartmann hat dafür flexibel konfigurierbare, sensorbestückte Regale für Verbrauchsgüter in Krankenhäusern entwickelt.
Die Sensorik stellt fest, wie voll die einzelnen Fächer sind. Der Anwender definiert Schwellwerte, ab denen nachbestellt wird, und der Algorithmus, der auf MS Azure läuft, stößt, wenn alle Bedingungen erfüllt sind, automatisiert den Bestell- und Liefervorgang an. Ein Erweiterungsschritt besteht darin, die Sensordaten mit der Kunden-Bestellgeschichte sowie Daten aus externen Quellen zu kombinieren, etwa Wetterdaten, Daten zu Epidemien etc. 900 Sensorboxen wurden bislang in 100 spanischen Krankenhäusern implementiert. Hartmann konnte den Bedarf der einzelnen Kliniken so zu 94 Prozent richtig einschätzen und so auch die eigenen Prozesse genauer steuern.
Weidmüller: ML-Modelle halbautomatisch bauen und modellieren
Ein drittes Beispiel vom Maschinenbauunternehmen Weidmüller will den oft mühseligen, fehleranfälligen und zeitraubenden Prozess der Modellgenerierung, des Anlernens und der Optimierung von ML-Algorithmen durch teilweise Automatisierung so vereinfachen, dass er auch für Nicht-IT-Spezialisten anwendbar ist. Dafür wurde der AML (Automated Machine Learning) Data Builder entwickelt, den Weidmüller schon in einigen Kundenprojekten, unter anderem beim Kompressorhersteller Boge, getestet hat.
Die Prozessdaten werden in die Software eingelesen. In ihr sind einfache mathematische Funktionen hinterlegt, die dann auf die Werte angewendet werden. Die Ergebnisse der Anwendung bewertet der Anwender durch grafische Markierung mittels Anklicken mit gut oder schlecht. Die Nutzer wählen dann, ebenfalls durch Anklicken, aus, welche Funktionen in das Modelle einfließen sollen.
Die Modellgenerierung geschieht automatisch, dann erfolgt der Test an weiteren Daten. Fertige Modelle lassen sich gegebenenfalls um zusätzliche Funktionen erweitern. So können für jeden potenziellen Einsatzzweck schnell mehrere Modelle generiert und deren Erfolg wieder händisch vom Anwender bewertet werden. Das beste der generierten Modelle lässt sich dann in die Runtime überführen. Für bereits im Einsatz befindliche Modelle liefert Weidmüller ein Optimierungsmodul mit.
Tobias Gaukstern, Vice President Industrial Analytics bei Weidmüller, präsentierte das Projekt auf der Tagung. Gaukstern: „Wir sind dabei, aus der Reihe der Lieferanten preissensitiver C-Komponenten in die von A-Produkten aufzusteigen.“ Davon träumen viele Maschinenbauer – mit KI-Projekten wie den dargestellten könnte es gelingen.
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