Kommentar von Tommi Mäkinen, Tata Consultancy Services Der digitale Zwilling gegen die Verschwendung
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Jedes Jahr landet rund ein Drittel aller für den Verzehr geeigneter Lebensmittel im Müll. Das entspricht etwa 1,6 Millionen Tonnen und ist für knapp acht Prozent der weltweiten Emissionen von Treibhausgasen verantwortlich. Gleichzeitig leiden 800 Millionen Menschen rund um den Globus an Hunger, während vor allem in Nordamerika und auch Europa hohe Lebensmittelverschwendungsraten pro Kopf verzeichnet werden.

Doch was können wir gegen dieses Problem unternehmen? Am Beispiel der Kartoffel – für viele Europäer das Alltagslebensmittel schlechthin – lässt sich zeigen, wie Technologie bei der Bewältigung dieser Herausforderung helfen kann. Was, wenn die Frische einer Kartoffel automatisiert gemessen und ihre Haltbarkeit optimiert wird? Was, wenn dies zusätzlich mit einer dynamischen Preisgestaltung kombiniert und die Kartoffel umso billiger wird, je näher sie ihr Verfallsdatum rückt – als Anreiz für den Verbraucher zum Kauf, damit sie nicht vom Ladenregal direkt in den Müll wandern muss?
Die Welt des digitalen Zwillings
Diese Fragen lassen sich mit einem der bedeutendsten technologischen Fortschritte der vergangenen Jahre beantworten: dem sogenannten digitalen Zwilling. Dabei wird ein Objekt oder ein Gegenstand auf einem Computer als virtuelles Modell erstellt, das genauso auf seine Umwelteinflüsse reagiert wie sein Gegenstück in der physischen Welt.
Bekannt ist der digitale Zwilling bereits seit Längerem im Bereich der Fertigung, wo er als virtuelle Abbildung einer Maschine, eines Produkts oder Prozesses die Zustandsüberwachung in Echtzeit ermöglicht. Durch die Beurteilung des Verschleißes von Maschinenteilen über den digitalen Zwilling können beispielsweise Teile ausgetauscht werden, bevor sie auszufallen drohen. Auf diese Weise macht das Modell eine vorausschauende Wartung und Simulationen möglich, ohne den laufenden Betrieb zu unterbrechen oder zu gefährden.
Die Vorteile dieses Konzepts lassen sich jedoch nicht nur auf Maschinen anwenden. So hat der IT-Dienstleister Tata Consultancy Services (TCS) mit „Digital Skin“ einen digitalen Zwilling der menschlichen Haut erstellt. Mit ihm kann virtuell die Wirkung von Medikamenten erforscht werden, die über die Haut aufgenommen werden. So schafft der digitale Zwilling neue Möglichkeiten bei der Medikamentenentwicklung, denn Pharmaunternehmen sind damit in der Lage, Simulationen einzusetzen, wo zuvor Ergebnisse aus Versuchen unter Laborbedingungen abgeleitet werden mussten. Langfristig hat die Technologie das Potenzial, auch die bislang üblichen, aber oft grausamen Tierversuche vollständig durch die Forschung am virtuellen Modell zu ersetzen.
Die gleiche Technologie kann auch im Lebensmittelhandel angewendet werden. Ein Modell dafür existiert bereits und die Ergebnisse sind vielversprechend.
In großen Dimensionen denken
Dank digitaler Technologien lassen sich Preise für Lebensmittel dynamisch gestalten und die Frische der Produkte überprüfen. Dazu werden unterschiedlichste Daten zu den verschiedenen Umweltfaktoren herangezogen. Hinzu kommt außerdem der Zeitfaktor, der für Produktion, Ernte, Sortierung, Güteklassifizierung, Verpackung, Lagerung – sowohl beim Erzeuger als auch im Handel – und Verkauf vom Feld bis zum Verbraucher benötigt wird.
Um die Qualität und Frische des Produkts zu messen und seine Haltbarkeit zu berechnen, werden Sensoren verwendet. Diese Sensoren können sich innerhalb oder außerhalb der Kartoffel befinden. Sie erfassen beispielsweise die Lufttemperatur und die relative Luftfeuchtigkeit sowie die Konzentration von Gasen wie Sauerstoff, Ethylen und Kohlendioxid. Diese Werte werden mit verschiedenen Modellen und Datenbanken kombiniert.
Ziel der Forschung in diesem Bereich ist es, Modelle zu finden, um die Haltbarkeit von Kartoffeln unter beliebigen Bedingungen mit einer möglichst geringen Anzahl von Sensoren zu bestimmen. So können Entscheidungen in Echtzeit getroffen und zum Beispiel die Transportbedingungen angepasst werden, um eine längere Haltbarkeit zu erreichen. Das Forschungsteam von TCS hat bereits Patente für die Systeme und Methoden zur Bewertung der Qualität von verderblichen Produkten und mathematische Modelle zur Vorhersage idealer Reifebedingungen angemeldet.
Verbesserung des Produkt-Pickings
Neben der Überwachung von Frische und Haltbarkeit kann die Technologie auch zur Verbesserung des Produkt-Pickings eingesetzt werden. Gerade für den Online-Lebensmitteleinzelhandel ist dies eine ständige Herausforderung, an der unter anderem die E-Commerce-Schwergewichte Amazon und Alibaba forschen. Bislang werden in Warenlagern Produkte für den Versand von den Mitarbeitern händisch aus den Regalen entnommen, um Bestellungen zusammenzustellen. Automatisierte Roboter würden Zeit und Kosten sparen, sind aber noch nicht in der Lage, alle Produkte fehlerfrei schneller als das menschliche Auge zu identifizieren. Amazon sucht unter anderem mit seiner jährlichen Amazon Picking Challenge den engen Austausch mit der Forschung. Dort können Robotik-Forscher zeigen, wozu ihre Entwicklungen heute hinsichtlich Produkt-Picking und -verteilung bereits in der Lage sind.
Aktuelle Systeme können ein zufälliges Objekt in etwas mehr als zehn Sekunden erkennen. Die Fehlerrate liegt bei knapp über zehn Prozent. Zum Vergleich: Ein Mensch identifiziert ein Objekt in weniger als einer Sekunde fehlerfrei. Mit immer größeren Rechenkapazitäten und wachsenden Datenmengen, anhand derer die Systeme lernen können, steht man hier jedoch noch lange nicht am Ende der Entwicklung.
Die Roboter könnten künftig darauf trainiert werden, zuerst die Exemplare aus dem Regal zu nehmen, die sich – ermittelt mithilfe der Sensoren – schon näher am Ende ihrer Haltbarkeit befinden. Dadurch sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Waren im Lager verderben. Die Kartoffel mit ihren verschiedenen Sorten und Formen wird aber von diesen Systemen noch nicht fehlerfrei erkannt – es sei denn, Hunderttausende bis Millionen von Datenpunkten stehen als Lernmaterial zur Verfügung.
Bessere Lösungen für die Lagerhaltung
Gemeinsam mit universitären Partnern hat die Forschungsgruppe Smart Machine von TCS bereits erfolgreiche Versuche durchgeführt und die gewonnenen Erkenntnisse in Praxistests angewandt, um Produkte besser für den Langstreckentransport zu verpacken. Auch dies wird in Warenlagern noch manuell von Mitarbeitern erledigt.
Als positiver Nebeneffekt lässt sich auch die Arbeitssicherheit verbessern, wenn bestimmte Aufgaben direkt von Maschinen durchgeführt werden. So kann sich ein Roboter beispielsweise nicht bei der Bewegung von Waren überheben – und schafft zudem größere Volumina.
Große Veränderungen beginnen oft mit kleinen Dingen. Mit der richtigen Strategie und Weitsicht kann der einfache Schritt, der Kartoffel einen digitalen Zwilling zu geben, einen Wandel in Gang setzen, der bei der Bekämpfung von Lebensmittelverschwendung hilft und unseren Kindern hoffentlich einen besseren Planeten zum Leben hinterlässt.
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