Gefahren von Big Data, der Digitalisierung und Industrie 4.0, Teil 2 Übernimmt künstliche Intelligenz die Steuerung?
Das mooresche Gesetz besagt, dass sich die Leistungsfähigkeit der Informationstechnik alle 18 Monate verdoppelt. Dieses Gesetz gilt seit fünfzig Jahren und wird wohl noch eine Weile bestand haben. Daher lohnt es, zu überlegen: Was ist das Ergebnis dieser Entwicklung bis heute – und wo führt sie in Zukunft hin?
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Hier geht es zu Teil 1 „Viele Daten, viele Risiken?“ und zu Teil 3 „Wer bekommt den (Nach-)Schlüssel zu unserem Ich?“
Wenn man alle analogen Akten des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR digitalisiert hätte, so hätte das nach Erkenntnis des Journalisten und Netzaktivisten André Meister nicht einmal drei Terabyte Speicherplatz benötigt. Die NSA soll in ihrem neuen Datenzentrum im US-Bundesstaat Utah fünf Zettabyte verarbeiten können. Wollte man die wiederum in DDR-Aktenschränke packen, wären dazu 17 Millionen Quadratkilometer Stellfläche nötig – das ist in etwa die Fläche Russlands. Wie kann man heute sinnvoll auf eine solche enorme digitalisierte Informationsmenge zugreifen?
Etwa mithilfe von Watson. Watson – das ist das System, das 2011 zwei menschliche Champions der Quizsendung „Jeopardy!“ deklassiert hatte, indem es die Fragen des Moderators – in natürlicher Sprache gestellt – schneller beantwortete als seine menschlichen Wettbewerber.
Lautbestandteile werden inhaltlich analysiert
Eine gigantische Leistung: Die Worte werden dazu in ihre Lautbestandteile zerlegt und inhaltlich analysiert, es wird ihnen eine Bedeutung zugewiesen und diese wiederum wird in einen Kontext gestellt.
Watson nutzt dabei das „Semantische Web“ – Wikipedia erläutert: „All die in menschlicher Sprache ausgedrückten Informationen im Internet sollen mit einer eindeutigen Beschreibung ihrer Bedeutung (Semantik) versehen werden, die auch von Computern „verstanden“ oder zumindest verarbeitet werden kann. Die maschinelle Verwendung der Daten aus dem von Menschen geflochtenen Netz der Daten ist nur möglich, wenn die Maschinen deren Bedeutung eindeutig zuordnen können. Nur dann stellen sie Informationen dar.
Zum Beispiel: <Stadt>Dresden</Stadt> liegt an der <Fluss>Elbe</Fluss>. <Name>Paul Schuster</Name> wurde <Geburtsjahr>1950</Geburtsjahr> in <Geburtsort>Dresden</Geburtsort> geboren.“
Fragt also der Jeopardy!-Moderator: „Wann war Kohl Kanzler?“, handelt es sich bei „Kohl“ nicht um ein Gemüse, sondern um einen Politiker. Genauso ist die Maschine in der Lage, unterschiedliche Satzstrukturen zu erkennen – „Von wann bis wann hat Kohl regiert?“ hätte zwar die gleiche Bedeutung, wäre grammatikalisch aber völlig anders aufgebaut. Die Antwort „Kohls Amtszeit begann 1982 und endete 1998“ würde dann wieder in Laute umgesetzt.
Zeit ist Geld
Dabei ist Zeit Geld – und die soll, wann und wo auch immer möglich, eingespart werden: Daten im Hauptspeicher sind gut, Daten am anderen Ende des Glasfaserkabels sind schlecht; Maschinen sollen in Hochgeschwindigkeit lernen, damit die Systeme mit den vielen Daten möglichst in Echtzeit antworten können: Hewlett-Packard (HP) ist davon überzeugt, dass 160 Petabyte (das sind 160.000 Terabyte) künftig in 250 Nanosekunden (= 0,00000025 Sekunden) durchpflügt werden können.
So soll die künstliche Intelligenz „Amelia“ der Firma IPsoft das Handbuch einer Erdölförderpumpe in 31 Sekunden verinnerlichen und dem Servicepersonal beim Reparieren Anweisungen erteilen können. 4.000 Filmdrehbücher sind für Amelia nichts, die „liest“ sie in einer Nacht.
Ein Watson in jedem Wohnzimmer
Der Sicherheitsberater Magnus Kalkuhl glaubt, dass das so weitergeht: Der Computer im heimischen Wohnzimmer würde in 15 Jahren genauso viel kosten wie heute, wäre aber viertausend Mal so leistungsfähig wie das Gerät, das heute im Wohnzimmer steht. 2030 hätten die Privatnutzer also eine Rechenkapazität zur Verfügung, die der von Watson aus Jeopardy! entspricht. Unbekannt ist, mit welcher Technik die Geheimdienste bis dahin arbeiten werden.
Die Entwicklung erfasst auch Computer, die schon klein sind: Bereits ein iPhone 4 von 2011 enthielt mehr Rechenkapazität, als die US-Weltraumbehörde NASA im Jahr 1969 insgesamt zur Verfügung hatte. Nehmen wir an, die Kundendatenbank eines Unternehmens benötigt 100 Gigabyte Speicherplatz, so passt diese auf einen Daumennagel-großen Chip im Wert von 39,50 Euro – mithilfe des Mobilfunkstandards LTE lässt sich diese Datenmenge innerhalb von 24 Stunden ans andere Ende der Welt übertragen. Mit der künftigen „5G“-Technik, die ab diesem Jahr eingeführt werden soll, dauert die gleiche Übung keine anderthalb Minuten mehr. HP denkt aber bereits über Handys mit einer Speicherkapazität von 100 Terabyte nach.
Sprache als Passwortersatz
Zur Interaktion mit der jeweiligen Intelligenz sollen die Nutzer ihre Stimme nutzen – dabei müssen aber weder die Kunden geschweige denn die Nutzer irgendwelche Hardware einkaufen: Die Intelligenz ist „allgegenwärtig“ und immer per Telefon erreichbar. Dafür entwickeln IBM und Apple derzeit 100 Programme, exklusiv für die mobilen Geräte aus dem Apfel-Imperium.
Die Stimme ist so einmalig, dass sie zu unserer forensischen Identifikation genutzt werden kann. Die Technik kann aber mehr – etwa die emotionale Verfassung des Sprechers erkennen oder das Gesprochene simultan übersetzen. Die Protagonisten empfehlen, die Sprache deshalb als Passwortersatz. Wissenschaftler warnen aber, dass Stimmprofile nicht nur gestohlen, sondern der Person auch noch beliebige Worte (per Sprachsynthese) in den Mund gelegt werden könnten.
Das Ende der Call Center?
Geht es jedenfalls nach IBM, so soll Watson das Ende der Call Center einläuten. Der Konzern fordert schon mal dazu auf, herauszufinden „wie Watson Branchen wie das Gesundheitswesen, Finanzwesen, Marketing und Servicebereiche verändert“. Zu letzteren zählen offenbar die Architekten – sie können Statik- und Designvorschläge erhalten; der Chefsyndikus von Big Blue stellt den Anwälten einen „digitalen Assistenten“ mit einer „gewaltigen, eigenständigen Datenbank“ in Aussicht, „die alle internen und externen Informationen enthält, die für die täglichen Aufgaben nötig sind.“
Weitere Beispiele gibt es aus dem Immobiliengewerbe und dem Tourismusgeschäft. Im September vergangenen Jahres hat IBM eine „mächtige Datenanalyse für jedermann“ angekündigt: Jedes Unternehmen könne jetzt Antworten auf Fragen erhalten wie: „Was sind die Erfolgsfaktoren meines Verkaufs?“ oder „Welche Verträge werden am wahrscheinlichsten abgeschlossen?“.
Grenzenloser Informationsaustausch?
Es scheint, als ob Amelia und Watson alles aufnehmen, was ihnen anvertraut wird. Das kann problematisch werden: Wer früher nacheinander im Call Center seiner Bank, bei seiner Krankenkasse und bei seinem Telefonunternehmen angerufen hatte, konnte wenigstens darauf hoffen, dass die drei Call Center sich nicht kennen und keine Informationen untereinander austauschen.
Bei einer künstlichen Intelligenz ist das anders: Wer kann schon garantieren, dass der Bank-Watson sich nicht mit dem Gesundheits- und dem Telefon-Watson austauscht? Etwa: „Ach ne, lass mal lieber – der Kunde hat kein Geld, der kann ja nicht einmal den Eigenanteil für seine Operation bezahlen!“ „Ja, würde ich auch nicht machen – der zahlt ja nicht mal mehr seine Telefonrechnungen!“ Oder ist Watson ohnehin nur eine vielfältig gespaltene Persönlichkeit?
Amelia scheint Watson sogar noch zu übertreffen: Sie spricht bereits 21 Sprachen, versteht nicht nur das ausdrückliche, sondern auch implizite Botschaften und hat bereitsKunden in der Bank- und Versicherungswirtschaft, sowie dem Öl- und Gasgeschäft gefunden.
Und ständig geht Amelia neue Verpflichtungen ein: So führt sie 26.800 Gespräche gleichzeitig und dient noch dazu der größten Einzelhandelskette in Japan als Kosmetikberaterin.
Werden bald auch Manager wegrationalisiert?
Da können die Menschen nach Hause gehen. Früher wurde bei solchen Neuerungen das Fußvolk gefeuert – etwa im Sekretariat. Jetzt sind die Chefs dran: An der Mayo-Klinik in Phoenix im US-Bundesstaat Arizona wurde Watson zur „Leitung“ der klinischen Studien angeheuert. Die japanische Kapitalbeteiligungsfirma Deep Knowledge hat eine „künstliche Intelligenz“ namens Vital mit Stimmrecht in den Vorstand aufgenommen – wegen ihrer „Fähigkeit, Markttrends aufzunehmen, die für Menschen nicht sofort offensichtlich sind“, wie die „Daily Mail“ erfahren haben will.
Chetan Dube, der Chef von IPsoft, sieht in die Zukunft: „Wir stehen am Rand einer tektonischen Verschiebung.“ Diese Verschiebung werde seine tief greifendste Wirkung auf dem weltweiten Markt der Wissensarbeiter entfalten. Dieser wird von McKinsey auf neun Billionen US-Dollar jährlich geschätzt. Dube ist überzeugt, „dass ein Drittel dieses Marktes unmittelbar für Technologien wie Amelia ansprechbar ist. Das ist ein reifer Drei-Billionen-Dollar-Markt.“
Turing-Test bestanden
1950 hatte der Mathematiker Alan Turing eine Idee, um festzustellen, ob Mensch und Maschine ebenbürtig seien. Untersuchungsteilnehmer sollten per Tastatur, ohne Sicht- oder Hörkontakt, mit je einem Menschen und einer Maschine kommunizieren. Wenn mindestens 30 Prozent der Probanden nach jeweils fünf Minuten Befragungszeit ohne sagen zu können, ob beim Gegenüber Blut oder Elektronen durchs Gehirn fließen, sollte der Versuch als Erfolg für die Maschine durchgehen.
Die Universität Reading behauptet, das Russische Computerprogramm „Eugene“ habe den Test im vergangenen Jahr gemeistert. Ray Kurzweil, Wissenschaftler und Director Engineering bei Google erwartet, dass die Wissenschaft „den menschlichen Verstand Mitte der 2020er-Jahre vollständig entschlüsselt haben wird“. Bis 2030 sollten menschliche und künstliche Intelligenz gleichauf sein. Unter dem Begriff „technologische Singularität“ verstehen Experten den Zeitpunkt, ab dem sich Maschinen selbst verbessern können. Kurzweil meint, dieser Zeitpunkt könnte 2045 erreicht sein. Der Physiker Stephen Hawkings fürchtet: „Die Entwicklung vollständiger künstlicher Intelligenz könnte das Ende der menschlichen Rasse bedeuten.“
Yvonne Hofstetter entwickelte mit ihrer Softwarefirma Teramark Technologies Algorithmen für Banken, Militärtechnik sowie Überwachungsflugzeuge und drückt ihre Erkenntnis plastisch aus: „Einige meiner Mathematiker- und Physiker-Kollegen sagen: Wir haben die neue Atombombe erfunden. Und um Himmels willen, keiner merkt es!“ Vielleicht sollten wir mal mit Amelia und Watson drüber reden.
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