Produktentstehung Was der digitale Zwilling in puncto Nachhaltigkeit leistet
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Digitale Zwillinge sind ein wirksames Instrument, um den CO2-Fußabdruck von Produkten entlang ihres gesamten Lebenszyklus zu verfolgen und langfristig zu reduzieren, wie Fraunhofer-Forscher zeigen.

Von der Rohmaterial-Beschaffung bis zu Entsorgung, Wiederverwendung, Wiederaufbereitung oder Recycling – in jeder Phase können Emissionsdaten erfasst und ausgewertet werden. Aus diesen Daten lässt sich ableiten, an welchen Stellen im Produktlebenszyklus Einfluss auf die CO2-Bilanz eines Produkts genommen werden kann. Denn, wie bekannt, fallen wichtige Entscheidungen lange vor der Fertigung. Über Klimafreundlichkeit und Kreislaufwirtschaftsfähigkeit eines Produkts bestimmen zum Beispiel die optimale Gestaltung des Produkts selbst und der Fertigung.
Für die optimale Gestaltungen spielen folgende Aspekte eine Rolle:
- Produktdesign mit dem Ziel eines geringen CO2-Fußabdrucks in der Nutzungsphase (beispielsweise durch effiziente Antriebsarten von Motoren),
- Materialien, die einen geringen CO2-Fußabdruck bei Materialbeschaffung und benötigten Transportwegen, Produktionsprozessen, Recycling und Entsorgung sowie eine lange Lebensdauer gewährleisten, und
- Optimierung der Geometrie und Fügearten des Produkts, um Reparaturen, Demontage und Wiederverwendung zu vereinfachen und somit Kreislaufwirtschaftsstrategien zu ermöglichen.
Für die effiziente Fertigung eines Produkts müssen
- ressourceneffiziente Produktionsstrategien, Intralogistik-Technologien und Fertigungsprozesse sowie Maschinen und Anlagen eingesetzt und
- energieeffiziente produktionsbegleitende Prozesse, beispielsweise zur Beleuchtung, Wärme, Belüftung oder Abluft geplant werden.
- In der Produktion selbst lassen sich Verbesserungspotenziale heben, indem Maschinen und Anlagen optimal gesteuert und energieeffizient betrieben werden.
Produktentwickler nutzen die Informationen, die in der Produktion und im weiteren Lebenszyklus erfasst werden, um langfristig nachfolgende
Produktgenerationen anzupassen und auf ihre CO2-Bilanz hin zu optimieren (Feedback to Design).
Wie gelangt man nun von den Produkt- und Produktionsdaten zum CO2-Fußabdruck? Die Methode der Ökobilanz liefert in diesem Kontext eine standardisierte und genormte Vorgehensweise zur Bewertung der Nachhaltigkeit von Produkten anhand verschiedener Wirkkategorien gemäß ISO-Norm 14044. Dabei werden alle Stoff- und Energieströme im Produktlebenszyklus erfasst und in Indikatoren vereinheitlicht, beispielsweise in CO2-Äquivalenten. Für jedes individuelle Produkt entsteht so ein umfangreicher Datenfundus, der sinnvoll abgespeichert und ausgewertet werden muss – und hier kommt der Digitale Zwilling ins Spiel.
Was „digitale Zwillinge für Nachhaltigkeit“ sind
Digitale Zwillinge liefern produktindividuelle Erkenntnisse, beispielsweise in Form eines CO2-Fußabdrucks, anhand derer nachvollziehbar ist, wie nachhaltig das jeweilige Produkt ist. So unterstützen sie Produktentwickler bei Entscheidungen während der Auslegung des Produkts und Produktionsplaner bei der Gestaltung der Produktionsprozesse. Im Bereich After Sales oder bei der Wartung der Systeme helfen sie beim Monitoring und zeigen mögliche Optimierungsmaßnahmen auf. Am Ende des Produktlebens stellen sie produktspezifische Informationen zu dessen Demontage und Verwertungspotenzialen zur Verfügung und tragen so zu Wiederverwendung, Remanufacturing oder Recycling bei.
In einer 2020 veröffentlichten Studie des Fraunhofer IPK zum Thema digitale Zwillinge sahen 63 Prozent der befragten Unternehmen ein sehr hohes Potenzial, dass Digitale Zwillinge in Zukunft für die Nachhaltigkeitsbewertung eingesetzt werden.
Digitale Zwillinge können sogar mithilfe von geeigneter Datenanalytik auch selbst Entscheidungen treffen – sozusagen als autonome Digitale Zwillinge. Forschende am Fraunhofer IPK machen das ökologische Potenzial digitaler Zwillinge für die Industrie nutzbar. Dafür haben sie ein konkretes Konzept erarbeitet, inklusive der Systemmodelle, der benötigten Infrastruktur, Informationslogistik und Entwicklungsmethodik: den „Digitalen Zwilling für Nachhaltigkeit“.
Planung und Betrieb von Produkten permanent abgleichen
Während eines Produktlebens werden hierzu mehrmals die zentralen Schritte der Datensammlung und Bewertung einer Ökobilanz durchlaufen. Dabei wird zwischen drei zentralen Schritten unterschieden: der frühen Ökobilanzierung während der Planungsphase, der Plan-LCA (A) sowie der regelmäßigen Aktualisierung auf Basis von Betriebsdaten Live-LCA (B) sowie dem Abgleich dieser beiden als Kernfunktion des digitalen Zwillings (C). Diese sind in der Abbildung oben im Kontext der Bestandteile des digitalen Zwillings dargestellt:
- A. Bereits während der Entwicklungsphase wird für verschiedene Varianten des Produktdesigns und entsprechende Prozessalternativen eine erste Ökobilanzierung basierend auf Annahmen und Plandaten durchgeführt. Diese LCA-Ergebnisse werden im sogenannten Digitalen Master (1), der für mehrere Produktinstanzen derselbe sein kann, hinterlegt.
- B. Sobald die Herstellungsphase beginnt, erzeugt das Produkt einen individuellen CO2-Fußabdruck – dieser wird nun über alle Phasen des Produktlebens als Digitaler Schatten (2) erfasst. Auch werden für alle beschafften Teile von den Zulieferern Daten gesammelt, um einen möglichst akkuraten CO2-Fußabdruck zu ermitteln. Dieser wird während der Produktion anhand von Energie- und Ressourcenverbrauchsdaten sowie Emissionen ständig neu kalkuliert. Deshalb kann dieser Digitale Schatten auch als Ist-Ökobilanz oder bei sehr echtzeitnahen Daten als Live-Ökobilanz bzw. Live-LCA bezeichnet werden. Über eine eineindeutige Identifikationsnummer des Digitalen Zwillings werden diese Daten miteinander vernetzt und über den Lebenszyklus rückverfolgbar gemacht. Je nach Anwendungsfall wird der CO2-Fußabdruck zu bestimmten festgelegten Zeitpunkten oder fortlaufend aktualisiert und für jede individuelle Produktinstanz – oder auch für eine Produktgruppe oder -flotte – berechnet und abgespeichert.
- C. Um nicht nur einen realistischen CO2-Fußabdruck für die Nachweisführung zu berechnen, sondern diesen auch effektiv senken zu können, werden Digitaler Master und Schatten im Kern des Digitalen Zwillings (3) intelligent verknüpft. Auf diese Weise werden die Abweichungen im Vergleich zum Plan automatisch erkannt und Auswertungen durchgeführt, um die kritischsten Verursacher zu identifizieren und Optimierungsmaßnahmen abzuleiten. Aus der Auswertung im Digitalen Zwilling können auch Steuerungsbefehle über eine direkte Rückkopplung zum physischen System (4) ausgeleitet werden, um beispielsweise das Produktverhalten hinsichtlich der CO2-Emissionen zu optimieren.
Aktuelle Beispiele aus der Forschung
Wie das konkret aussehen kann, zeigt das vom BMBF geförderte Forschungsprojekt BioFusion 4.0. Dort wird ein Digitaler Zwilling mit integrierter LCA am Beispiel einer Automotive-Komponente – dem Ventilgehäuse, welches am Mercedes-Benz Werk Berlin gefertigt wird, umgesetzt. Für die Komponente wird der CO2-Fußabdruck ab der Beschaffungs- bis zur Produktionsphase erfasst und im Digitalen Zwilling abgelegt. Implementiert wird das Ganze durch das Fraunhofer IPK gemeinsam mit den Technologiepartnern Contact Software und Green Delta.
Wird die betrachtete Komponente anschließend in einem Auto verbaut, kann ihr CO2-Fußabdruck als ein Baustein des Gesamtfußabdrucks des Fahrzeugs betrachtet werden. Wie digitale Zwillinge auf Fahrzeugebene gestaltet werden können, untersuchen unter anderem BMW, ZF Friedrichshafen, BASF, Henkel und LRP – Autorecycling Leipzig im Rahmen des großen Forschungsprojekts Catena-X. Forschende des Fraunhofer IPK beteiligen sich an der Gestaltung des Digitalen Zwillings für die Umsetzung von Kreislaufwirtschaftsprinzipien wie Reuse, Recover, Remanufacturing oder Recycling: Die dazu benötigte Architektur, Services und Datenmodelle werden in der automobilen Wertschöpfungskette erforscht und implementiert. Dabei steht hier jedoch explizit der unternehmensübergreifende Datenaustausch – Gaia-X-konform – im Fokus.
Dieser Artikel stammt von unserem Partnerportal KonstruktionsPraxis.
* Basierend auf dem Artikel „Je früher, desto besser“ des Fraunhofer-Instituts für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik
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