Gefahren von Big Data, der Digitalisierung und Industrie 4.0, Teil 3 Wer bekommt den (Nach-)Schlüssel zu unserem Ich?
Die vergangene Ausgabe dieser Kolumne hat sich bereits mit der Sprache als Werkzeug zur Übermittlung von Informationen beschäftigt. Heute geht es um die Sprache als Teil unserer Persönlichkeit.
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Hier geht es zu Teil 1: Viele Daten, viele Gefahren?
Und hier zu Teil 2: Übernimmt künstliche Intelligenz die Steuerung?
Die Wissenschaftler Yla R. Tausczik und James W. Pennebaker sind der Ansicht, die Sprache sei der geläufigste und vertrauenswürdigste Weg, um Gedanken und Emotionen zu übersetzen, die andere verstehen könnten: „Worte und Sprache sind der besondere Stoff der Psychologie und der Kommunikation.“
In einer US-Studie wurden Facebook-Statusmeldungen untersucht. Es zeigte sich, dass sich das Geschlecht mit einer Wahrscheinlichkeit von 92 Prozent vorhersagen lässt – nur anhand dieser Meldungen.
Wortwahl und Persönlichkeitsmerkmale
Genauso ist das Alter mit einer Genauigkeit von drei Jahren in über der Hälfte der Fälle zu bestimmen und: Die Forscher glauben, dass es einen Zusammenhang zwischen Worten und Persönlichkeitsmerkmalen gibt. Die häufige Verwendung von Worten wie „Snowboarden“, „Basketball“ oder „Meeting“ scheinen darauf hinzudeuten, dass die Urheber emotional weniger labil sind. So besteht die Hoffnung, dass Studien künftig wesentlich leichter mithilfe der „sozialen“ Netze unternommen werden können.
Die emotionale Labilität wird von Psychologen auch als Neurotizismus bezeichnet. Dieser wiederum bildet mit der Extraversion (der nach außen gewandten Persönlichkeit), der Verträglichkeit (im Umgang mit Anderen), der Offenheit (gegenüber Neuem) und der Gewissenhaftigkeit (bei der Arbeit) das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeitseigenschaften.
Automatische Persönlichkeitserkennung
Ob das im Einzelfall immer stimmt, kann jeder selbst ausprobieren – François Mairesse hat eine Demo-Anwendung für eine „Automatische Persönlichkeitserkennung“ ins Netz gestellt: Nachdem der Text eingegeben, die statistische Methode ausgewählt und deklariert wurde, ob es sich bei dem Text um abgetippte Sprache oder einen ursprünglichen Schrifttext handelt, kann unterschieden werden zwischen „Mails“, „Essays/Berichten“, „Chat-Protokollen“ und „Gedanken“, um dann schließlich „berechnen“ zu drücken. Das System beherrscht jedoch nur Englisch.
Je menschlicher wir daherkommen, desto detaillierter ist der Blick in unsere Persönlichkeit: Sprache ist Text überlegen. Die Sprachwissenschaftler bezeichnen mit der „Prosodie“ die Gesamtheit derjenigen lautlichen Eigenschaften der Sprache, die nicht an den Laut als minimales Segment, sondern an umfassendere lautliche Einheiten gebunden sind. Dazu gehören auch Wort- und Satzakzent, Intonation, Satzmelodie, Tempo, Rhythmus und die Pausen beim Sprechen.
Eine Studie italienischer und britischer Forscher will herausgefunden haben, dass sich Menschen anhand ihrer Stimme mit einer Genauigkeit von 80 Prozent automatisch nach dem Grad ihrer Persönlichkeitsmerkmale sortieren lassen [PDF]. Heerscharen von Wissenschaftlern beschäftigen sich mit Themen wie den „Sprachverstehenssystemen“.
Die Macht der Bilder
Hinzu kommt die Macht der Bilder – US-Behörden haben im Rahmen eines Sicherheitsprogramms namens „Janus“ erkannt, wie vielfältig unser Gesichtsausdruck ist: Die Menschen „lachen, lächeln, schauen böse, gähnen und ändern ihren Gesichtsausdruck bei ihren täglichen Aktivitäten“. Weiter heißt es: „Jeder Gesichtsausdruck ist von einmaligen Merkmalen des Skeletts und seiner Muskulatur bestimmt und ähnelt sich im Lebensverlauf.“
Zudem entscheidet die Stimme unserer Gesprächspartner auch darüber, ob wir positive oder negative Gefühle zu anderen entwickeln oder womöglich gar eine Partnerschaft eingehen. Mit unserer Kommunikation präsentieren wir unsere Persönlichkeit. Dazu gehören neben der Sprache und der Mimik auch noch Gestik, Haltung und Gang. Es geht um alles, was so bewusst und unterbewusst in uns vor sich geht.
In seiner Promotionsarbeit an der Technischen Universität München beschäftigte sich Frank Wallhoff mit der „Entwicklung und Evaluierung neuartiger Verfahren zur automatischen Gesichtsdetektion, Identifikation und Emotionserkennung“. Sein Anliegen sei gewesen, „die heute noch haptisch (sprich: Tastatur-gegebundene, Anm. d. Autors) dominierte Mensch-Maschine-Kommunikation langfristig für den Menschen natürlicher und komfortabler zu gestalten sowie Lösungen für gesichtsbasierte Sicherheits- und Multimediaanwendungen zu liefern.“
Datensammlung im öffentlichen Raum
Die Arbeit ist fast zehn Jahre alt. Heute lauern uns die Systeme in der Öffentlichkeit und im Supermarkt gleich neben der Wurst auf. Zu den Sicherheitsanwendungen zählt Janus. Seit April 2014 wird das Programm „radikal“ ausgebaut – es soll nicht auf Fahndungsfotos, sondern auf Bilder des realen Lebens – etwa von Überwachungskameras – zugreifen. Außerdem werden Mikrofone installiert – beispielsweise in 55 Bussen in Portland im Bundesstaat Oregon. In Washington sollen es 300 Sensoren auf 20 Quadratmeilen (~ 52 Quadratkilometer) sein, 70 Städte beobachten die Einwohner auf diese Weise seit 2012.
Bereits die Kleinen werden im Kindergarten auf Transparenz getrimmt: „Schlaumäuse – Kinder entdecken Sprache“, heißt es da – mit freundlicher Unterstützung von Microsoft. Und der Spieltrieb hält bis ins Alter an – so finden es die Eigner moderner Luxuskarossen schick, während des Fahrens ihr Handy sprachgesteuert zu bedienen, ohne dabei die Hände vom Steuer zu nehmen.
2011 hat uns Skype mitgeteilt, dass die Videotelefonie jetzt auch fürs Android-Handy verfügbar sei. Seit 2013 auch kann der Fernseher als Videofon genutzt werden. Der Gesprächspartner auf dem Riesenbildschirm wirkt größer als man selbst. Die Lebenslinien zeichnen sich in UHD-Auflösung ab.
Maschinen werden eloquenter
Wird man sich eines Tages mit Geräten so unterhalten wie mit einem Menschen? Peter Mahoney, Chief Marketing Officer beim Spracherkennungs-Spezialisten Nuance, glaubt: „Je mehr Daten wir sammeln und analysieren und je mehr Sensoren die Software nutzen kann, desto besser werden die Konversationen. Wenn die Software weiß, wo man arbeitet, wo man wohnt, in welchen Gebieten man sich bewegt, hilft das bei der Kontextualisierung.“
Stichwort Kontextualisierung – künftig können wir unsere Umgebung fernsteuern. James Bond benötigte in „Der Morgen stirbt nie“ ein Handy, um seinen BMW aus der Ferne aus dem Park- in ein Autohaus zu stürzen. Völlig veraltet! Wir brauchen keine elektronische Krücke mehr, um mit unseren Geräten zu interagieren – wir kommunizieren freihändig mit der Umgebung, direkt. Samsung-Fernseher reagieren auf Sprache und Gesten und erkennen noch dazu die Gesichter derer, die da so vor ihm sitzen. LG will mit seinem „Home Chat“ gleich Zugriff auf die gesamte Wohnung bekommen und Unterhaltungselektronik wie Haushaltsgeräte durch Zuruf steuern.
Eine ganze Reihe von Finanzdienstleistern und IT-Unternehmen wie die Bank of America, Google und Microsoft wollen mit der „FIDO-Alliance“ die Menschen motivieren, ihren Fingerabdruck für eine Zwei-Faktor-Autorisierung zu nutzen. Diesbezügliche Interessenten sollten sich allerdings bewusst sein, dass sich Fingerabdrücke mit Fotokameras aus einer Distanz von sechs Metern erfassen und innerhalb von einer Sekunde mit 129 Millionen anderen vergleichen lassen. Das sollte insbesondere all die Menschen mit Geld, Macht und Einfluss aufhorchen lassen: Fingerabdrücke am Einkaufswagen im Supermarkt, in der Züricher Innenstadt oder am Türgriff von Nobelhotels zu erkennen, könnte nicht nur Kriminellen lukrativ erscheinen.
Apropos Biometrie: Die Analyse von Erbmaterial dauerte früher mal drei Tage und länger, heute lediglich noch eine Stunde. Bis 2017 will Intel in der Lage sein, die genetische Funktion einer Zelle komplett in Echtzeit – also ohne zeitliche Verzögerung – zu simulieren. Ebenso schnell wäre es dann möglich, eine Person anhand von Blutstropfen, Sperma-, Schweiß-, Speichelspuren, einzelnen Haaren, dem Körpergeruch oder anhand von Hautschuppen zu identifizieren.
Quantified-Self-Bewegung
Hinzu kommt die „Selbstvermessung“: So gibt es immer mehr Menschen, die permanent mit allerlei technischem Gerät ihre eigenen physiologische Werte erheben – etwa ihre Herzfrequenz, den Blutzuckerspiegel, die Schrittzahl und den Kalorienverbrauch erfassen. Praktischerweise gibt es jetzt auch „iKühlschränke“. Ein solcher wird uns dann künftig sicher bereits vor dem Essen darüber informieren, dass die „iKlamotten“ nach dem Speisen geschrumpft sein könnten. Und die iToiletten kann die Qualität unserer Hinterlassenschaft prüfen und – in Echtzeit natürlich – an die „Telematikinfrastruktur im Gesundheitswesen“ schicken.
Und der „Kontextualisierung“ wegen sind weitere Details der menschlichen Existenz relevant – etwa (Ab-)Neigungen, Bildungsstand, Erbanlagen, (Ernährungs-)Gewohnheiten, Freunde, Kinder, Kindheitserlebnisse, Lebensstandard, (sexuelle) Vorlieben, soziale Herkunft, Wohnort und vieles mehr: Wenn wir einen Witz machen, ist unser Gesichtsausdruck anders als bei einem Streitgespräch. Wer traurig ist, lässt die Schultern hängen, wer einen Erfolg zu verbuchen hat, geht aufrecht. Personen mit großem Selbstwert glauben, sie selbst seien für ihr Glück zuständig und für die Misserfolge seien die Anderen verantwortlich. Bei den Menschen mit geringem Selbstwert ist das umgekehrt. Ähnlich kann man zu Intelligenz, Humor, Stimmungen und Kreativität schlussfolgern.
Angesichts so vieler Daten hat Peter Mahoney frohe Kunde für die Kunden: „Die Herausforderung liegt in den nächsten Jahren darin, Spracherkennung mit künstlicher Intelligenz zu verbinden. Langfristig wird es darauf hinauslaufen, dass das System schon weiß, was man will, bevor man es überhaupt sagt.“ Wie gut, dass wir unser Heim immer mit den leistungsfähigsten Spielsachen ausrüsten – wenn die Referenzdaten schon schlecht sind, könnte womöglich die Erkennung in der Öffentlichkeit leiden!
Nach der Erkennung kommt die Einstufung: 2010 soll eine Seminarleiterin behauptet haben, sie könne die Leistungsorientierung ihres Gegenübers danach beurteilen, wie lang sein Kinn ist. Eine solche „Rassentheorie“ wurde von Robert Virchow im 19. Jahrhundert verfolgt, aber bereits von ihm selbst widerlegt; unglücklicherweise leistete Virchow den Nazis mit seinen ursprünglichen Hypothesen unfreiwillig Schützenhilfe.
Mindfiles, die Vision der Transhumanisten
Womöglich gibt es nicht nur in der Personalwirtschaft Führungskräfte, die intellektuell im vorletzten Jahrhundert stecken geblieben sind – etwa unter Ärzten, Anwälten oder in Arbeitsämtern, Banken, Finanzämtern, Gerichten, IT-Unternehmen, Krankenhäusern und -kassen, Strafverfolgern, Versicherungen und Zulassungsstellen. Sie alle stehen Schlange vor dem „Mindfile“ eines Neugeborenen. In dieser Datei lässt sich dessen ganzes Leben von der Wiege bis zur Bahre in beliebiger Detailtiefe abspeichern. Die Frage ist nur, wer den (Nach-)Schlüssel dazu erhält.
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