Buchrezension „Big Data. Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie“ Was bewirkt Big Data?
Viel zu oft wird Big Data lediglich als technologisches Phänomen betrachtet oder auf seine ökonomischen Möglichkeiten reduziert. Ein Buch aus dem Transcript-Verlag beleuchtet jetzt andere Aspekte.
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In den Diskussionen über Big Data geht es häufig um ökonomische Nutzeffekte: Typische Einsatzbereiche sind Vertriebsoptimierung, vorbeugende Wartung (Predictive Maintenance), Streckenoptimierung oder die Steuerung vernetzter Großsysteme wie dem zukünftigen Smart Grid. In der Medizin sollen Big-Data-Algorithmen den Ärzten helfen, durch Einbeziehung mehr und unterschiedlicher Informationsquellen bessere Behandlungsentscheidungen zu treffen, bei der Polizei vorbeugend Straftaten verhindern.
Der Wiener Ramón Reichert, Professor für Neue Medien am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien, wählt eine andere Herangehensweise. Er fragt, ob und wie sich die Strukturen der Wissenschaft, der Wirtschaft und des Sozialen oder der Gesellschaft durch Big-Data-Technologien und ihre Implikationen verändern.
Interessenskonflikte
Was zum Beispiel bedeutet es für die Wissenschaft, wenn sie ihre Daten nicht mehr selbst erhebt, sondern sie von kommerziellen Unternehmen bezieht, die ihrerseits ein deutliches Verwertungsinteresse an den Datenmassen haben? Lässt sich so überhaupt eine ausreichende Datenqualität sicherstellen oder wenigstens konzise überprüfen?
Und wie sieht es mit der wissenschaftlich eigentlich unumgänglichen Überprüfung der Forschungsergebnisse durch Dritte aus (Peer Review), wenn es niemanden außer einen Forschungsprojekt gibt, der auf genau dieselben Daten Zugriff hat? Was bedeutet es, wenn Internet-Datenquellen auf dieselben Rechercheanfragen aufgrund der Cache-Struktur der Internetsysteme dieselbe Frage zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichen Datensets beantworten?
Wie wird garantiert, dass Wissenschaftler, die mit Daten zum Beispiel aus sozialen Medien arbeiten, von den Anbietern alle benötigten Daten bekommen statt nur die, die Google, Facebook oder Twitter entbehren können? Wie weit sind die vielfältigen Methoden der Sozialforschung, insbesondere die qualitativen, durch Auswertung großer Datenmassen, Korrelation und Statistik ersetzbar? Wer prüft, ob Korrelationen auch tatsächlich etwas erklären, statt nur statistische Artefakte zu sein?
Was bedeutet es überhaupt, wenn die Datengenerierung und -erfassung mehr und mehr in die Hände privater Unternehmen übergehen, die diese Daten dann mehr oder weniger als ihr Privateigentum und als Goldgrube für kommerziell verwertbare Erkenntnis betrachten. Was bedeutet es, wenn aus der Auswertung von Massendaten mithilfe statistischer Methoden Rückschlüsse auf Einzelne gezogen werden, die für diese Einzelnen sehr wohl ökonomische Auswirkungen haben können – bis hin zum Ausschluss von Leistungen etwa bei Versicherungen.
Wer bestimmt über die Datenbasis?
Was bedeutet es schließlich für jeden Menschen und die sozialen Zusammenhänge, in denen er oder sie sich bewegt, zu wissen, dass man ständig vermessen, beobachtet, verdatet und ausgewertet wird, und zwar freiwillig (etwa über Bonuskarten) und unfreiwillig (etwa über Videokameras im öffentlichen und halböffentlichen Raum, E-Mail- oder Internetüberwachung). Wie gehen Menschen damit um? Ändern sie ihr Verhalten? Wie? Und welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus? Demokratisieren die Erkenntnisse aus Big Data die Gesellschaft? Oder provozieren sie neue Hierarchien und neue Ausschlüsse?
Die Beiträge des Buches wählen unterschiedliche Herangehensweisen: Die Spannbreite reicht vom wissenschaftsphilosophischen und -historischen Diskurs bis zur detaillierten Beschreibung einzelner Forschungsprojekte. Ein Beispiel für letzteres ist eine Analyse der Resultate von Google Ngram zu bestimmten Begriffen. Sie belegt, dass die Nutzung der von Google bereitgestellten Internet-Analysewerkzeuge durchaus missverständliche und manchmal auch schlicht falsche oder unvollständige Ergebnisse erbringen kann.
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