Interview mit Frank Riemensperger, Accenture Deutschlands Chancen im digitaler werdenden Wettbewerb

Autor / Redakteur: Viviane Krauss / Nico Litzel |

Wie steht es um Deutschland im internationalen und immer digitaler werdenden Wettbewerb? Frank Riemensperger zufolge hat die deutsche Industrie nach wie vor eine große Chance, den Spitzenplatz in der Wirtschaft auch in einem Industrie-4.0-Kontext zu sichern. Was es dazu braucht, verrät er im Interview.

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Unternehmen bauen vernetzte Produkte, Anlagen und Maschinen und bieten erste digitale Services an – diese Schritte stellen jedoch nur die erste Grundlage zum erfolgreichen Geschäftsmodell dar.
Unternehmen bauen vernetzte Produkte, Anlagen und Maschinen und bieten erste digitale Services an – diese Schritte stellen jedoch nur die erste Grundlage zum erfolgreichen Geschäftsmodell dar.
(Bild: gemeinfrei / Unsplash)

Die Digitalisierung hat auch auf die deutsche Industrie einen großen Einfluss. Durch die Transformation einzelner Produkte, kann sich auch ein Geschäftsmodell transformieren – und das ist essenziell um im internationalen Wettbewerb nicht auf der Strecke zu bleiben. Frank Riemensperger, der Deutschlandchef der Unternehmensberatung Accenture, nimmt in einem Interview Stellung zur erforderlichen Veränderung der deutschen Industrie im Zuge der Industrialisierung.

Automatisierung, Datenströme und KI werden immer mehr zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor. Herr Riemensperger betont, dass Daten so genutzt werden sollten, um interne Abläufe zu optimieren um dadurch neue, dienstleistungsbasierte Geschäftsmodelle zu entwickeln. Allerdings schafft bislang nur eine Handvoll Unternehmen, durch digitale Wertschöpfung eines smarten und vernetzten Produktes ein neues Leistungsversprechen zu erreichen.

Herr Riemensperger, wie kann es sein, dass ein hoch technologisiertes Land wie Deutschland als Schwellenland in Sachen Digitalisierung betrachtet wird?

Frank Riemensperger: Vorab, Deutschland ist in Sachen Digitalisierung kein Schwellenland! Wir kommen zwar, wenn es um den Standort als Ganzes geht, oft nicht gut weg. Beim Internet der Dinge und der Digitalisierung der deutschen Industrie haben wir aber beste Aussichten, im globalen Wettbewerb zu bestehen. Allerdings sind bisher keine digitalen Geschäftsmodelle dabei, die uns langfristig ernähren könnten. Produkte und die Produktion verändern sich derzeit rasend schnell – die Konzepte, die Deutschland gestern an die Spitze der globalen Wirtschaft gebracht hat, müssen angepasst werden. Dafür verantwortlich ist die vierte industrielle Revolution, diese setzt voraus, dass aktuelle Vorgehensweisen radikal verändert werden müssen und das schnell!

Okay, wenn das der Status Quo ist, worauf kommt es zukünftig an?

Neben den Produkten und der Produktion werden in Zukunft Digitalisierung und Automatisierung die Datenströme und nicht zuletzt auch die Künstliche Intelligenz speisen, die wiederum zum alles entscheidenden Wettbewerbsfaktor werden dürfte. Dazu kommt sich auch im B2B-Sektor veränderndes Kundenverhalten. Es besteht zunehmend die Erwartungshaltung eines Einkaufserlebnisses, wie man es aus dem Endkundengeschäft kennt. Das bedeutet, Websites und digitale Dienste werden wichtiger, dasselbe gilt für kanalübergreifende Betreuung und – vor allem – die gezielte, personalisierte Beratung. Wer weniger bietet, riskiert bei der Vergabe von Aufträgen außen vor zu bleiben. Es gilt also, seine Daten zu nutzen, um damit Abläufe zu optimieren und vor allem auch neue, dienstleistungsbasierte Geschäftsmodelle zu entwickeln. Wer hier den Anschluss heute verpasst, der hat morgen verloren. Ich erkenne zwar ein Verständnis hierfür in der deutschen Industrie, aber sehe noch keine ausreichende Reaktion. Viele zögern noch und sind auf der Suche nach der richtigen Vorgehensweise. Genau hier besteht ein Teil der Chance. Wir sind der festen Überzeugung, dass die Unternehmen im Internet der Dinge erfolgreich sein werden und die Hürden auf diesem Weg meistern können. Absolutes K.-O.-Kriterium dafür ist, dass sie das richtige Ziel verfolgen.

Spannende Ausführung, aber was genau ist denn das „richtige“ Ziel?

Die kurze Variante: Digitale Wertschöpfung – Punkt. Die etwas längere Variante besteht daraus, dass die Digitalisierung in der Industrie nicht nur aus der Vernetzung von Maschinen und dem Sammeln von Daten besteht. Die volle Wertschöpfung, die IoT und Industrie 4.0 bieten, ergibt sich nur für die, die nicht bei den Smart Factories stehen bleiben, sondern noch einen Schritt weitergehen und neue Ansätze bei den Themen Wertschöpfung, Geschäftsmodell und Kundenansprache verfolgen. Daraus ergeben sich neue Geschäftsmodelle, die als Basis das Internet der Dinge nutzen und daraus wiederum ergeben sich neue Leistungsversprechen. Ich nenne Ihnen mal ein Beispiel. Die Züge der AVE, die spanischen Hochgeschwindigkeitszüge, erreichen schon heute eine Pünktlichkeit von 99,8 Prozent und eine sich daraus ableitende Auslastung von 75 Prozent. Zum Vergleich: die Fernzüge der Deutschen Bahn erreichten 2017 im Vergleich nur eine magere Auslastung von 55 Prozent sowie eine Pünktlichkeitsqoute von 78,5 Prozent. Wie gelang das den Betreibern von AVE? Durch den Einsatz datenbasierter Prozesse und Wartungsoptimierung. Über die verbesserte Performance der Züge hat sich auch ein neues Geschäftsmodell ergeben. Der Betreiber kann sein Know-how über das Herstellen von Pünktlichkeit verkaufen. Genau das sollte das übergeordnete Ziel unserer Industrieunternehmen sein – digitale Wertschöpfung ermöglicht aus dem smarten und vernetzen Produkt, in meinem Beispiel der Zug und das Schienennetz, smarten Service, die verbesserte Wartung, sowie dem neuen Leistungsversprechen Pünktlichkeit. Doch exakt diese Verbindung schaffen bislang nur eine Handvoll Unternehmen.

Das klingt nicht besonders vielversprechend für den deutschen Markt. Eingangs sprachen Sie davon, dass Deutschland über die Voraussetzungen verfügt, um sich in einem digitalisierenden Wettbewerbsumfeld zu behaupten. Welche sind das denn genau?

Das wohl wertvollste Asset Deutschlands liegt in den Maschinen – wir sprechen hier von etwa über einer Milliarde eingesetzter, gefertigter und verkaufter Geräte in und aus Deutschland. Daraus ergeben sich über eine Milliarde Endpunkte innerhalb des Internet of Things. Diese Datenströme sind der entscheidende Wettbewerbsvorteil Deutschlands, es gilt also diese zu verwerten, und zwar hier und jetzt. Wer den Zugang zu diesen Daten hat und sie veredeln kann, hat das Potenzial zum Weltmarktführer zu werden. Sehen Sie sich die Erfolgsbeispiele aus dem Endkundenbereich an. Die Marktkapitalisierung der vier größten Internetkonzerne aus den USA entspricht in etwa der Hälfte des deutschen Bruttosozialprodukts. Sofern unsere deutschen Industriebetriebe ihren „Datenschatz“ heben, könnten sie diesen riesigen Wert sicherlich noch übersteigen. Schließlich sind Daten und Informationen aus Autos, Logistikketten und Fabrikanlagen um ein vielfaches wertvoller als die aus E-Commerce-Plattformen und Social Media, die sich in aller Regel nur zu Vermarktungszwecken eignen.

Das wären ja vielversprechende Aussichten – paradox, dass sich da noch keiner dran gemacht hat, oder?

Es gibt bereits eine Vielzahl von Unternehmen, die sich daran gemacht haben. Entweder dadurch, dass sie Maschinen oder Geräte um digitale Features erweitern oder durch die Entwicklung von IoT-Anwendungen ergänzen. Andere wiederum starten richtige IoT-Plattformen und verbinden gleich viele Maschinen und Geräte mittels einer Cloud mit Dienstkatalogen und Payment-Services. Aber auch hier gibt es ein „Aber“, denn, so zuversichtlich das auch klingt, diese Entwicklung ist bei Weitem nicht ausreichend. Viele der Vorreiter-Versuche bleiben Einzelfälle und die, für die das nicht gilt, werden nicht konsequent weiterentwickelt. Die genannten Plattformen bleiben meist für Dritte verschlossen und die Verbreitung sämtlicher Entwicklungen eher überschaubar und das führt uns auch schon zu den weniger erfreulichen Zahlen. Weltweit erzielen 16 Prozent der maßgeblich in Plattformen investierenden Unternehmen eine hohe Wertschöpfung, wohingegen in Deutschland es nur drei Prozent sind. Was sagt uns das? Unsere Unternehmen nutzen ihre Stärken noch lange nicht aus!

Gemessen an den nackten Zahlen hinkt Deutschland also hinterher. Aber was macht der Wettbewerb denn so viel besser als wir?

Schauen wir uns doch mal die Grundpfeiler des deutschen Erfolgs an. Im Prinzip ist das nach wie vor die Automobilindustrie, von der jeder zehnte Arbeitsplatz in Deutschland abhängt. Dazu kommt, dass 60 Prozent des Wachstums der 50 größten Unternehmen in Deutschland ebenfalls von der Automobilindustrie abhängen. Wirft man einen Blick in die USA oder China, sieht es wie folgt aus. Dort hat sich der Anteil der IT-Industrie an der gesamten Wirtschaftsleistung in den USA von 28 Prozent auf 36 Prozent und in China von 7 auf 28 Prozent erhöht. Klar, China kommt von einem niedrigen Niveau, aber nichtsdestotrotz zeigt diese Entwicklung, wohin die Reise geht und bislang ist Deutschland nicht ausreichend daran beteiligt. Wir stellen also fest, dass der Wettbewerb sich auf Themen wie IoT, Big Data, Künstliche Intelligenz und – in Teilen – auf Plattform-Geschäftsmodelle konzentriert, wohingegen in Deutschland der Fokus unverändert bleibt: Ingenieurskunst, Produkt- und Service-Exzellenz sowie Exportstärke. Das ist alles grundsätzlich richtig. Was uns aber fehlt, ist die Verknüpfung von Intelligenten Produkten und Plattformen für betriebsbegleitende Services, mit denen die Nutzer der Produkte für sich persönlich bessere Ergebnisse erzielen oder generell eine positivere Kundenerfahrung machen.

Wie genau sieht diese Strategie aus?

Naja, wie bereits erwähnt, im Kern geht es darum, den Schlüssel zum Wettbewerbserfolg zu nutzen. Dieser besteht im Internet der Dinge daraus, Maschinen miteinander zu verbinden, digitale Geschäftsmodelle und Services daraus zu entwickeln und daraus wiederum ein neues Leistungsversprechen abzuleiten.

Die Grundlage dafür ist ja bereits geschaffen – unsere Unternehmen bauen vernetzte Produkte, Anlagen und Maschinen und bieten erste digitale Services an. Das geschieht bei den Fabrikausrüstern, innerhalb der Automobilindustrie und reicht bis in den Baumaschinensektor hinein, wo es unter anderem einen Anbieter gibt, der mit einer selbst entwickelten Plattform zur Vermietung von Estrichpumpen Geld verdient.

Die technischen Voraussetzungen sind also gegeben. Das, was uns jetzt noch fehlt, ist der Schneid zu einer vollumfänglichen Digitalisierung. Was auch noch mit rein spielt, sind einige Mängel in Hinblick auf die Infrastruktur. Ich spreche da insbesondere von den Schwächen beim Breitbandausbau sowie Hürden für einen Unternehmensübergreifenden Austausch von Maschinendaten. Die Krönung aber wird der Rahmen, der aktuell noch fehlt, für einen schnellen aber wohldurchdachten Übergang in die Datenökonomie sowie die Welt der B2B-Plattformen. Oder um es anders und knackiger zu formulieren: Wir müssen von „Made in Germany“ zu „Operated by Germany“ wechseln.

Okay, Sie haben nun nachvollziehbar aufgezeigt, wie sich die, überspitzt formuliert, analoge deutsche Industrie hin zu einer datengetriebenen digitalen Industrie entwickeln kann. Aber was genau meinen Sie mit „Operated by Germany”?

Guter Punkt. Was genau braucht die Industrie, um sich von einer reinen Produkt- hin zu einer Produkt-plus-Service-Ökonomie zu bewegen? Nach unserer Auffassung liegt die strategische Antwort der Industrie, sowohl in Deutschland als auch in ganz Europa, in der Verknüpfung von drei übergeordneten Themenfeldern. Wichtig dabei ist, dass diese immer mit Blick auf den Kundennutzen sowie in ganzer Breite bearbeitet werden müssen. Konkret sind das diese Felder: Neue Architekturen für Smart Products, damit meine ich Maschinen und Anlagen, die speziell für die Plattform-Ökonomie entwickelt werden. Dazu kommen neue digitale Verfahren für Engineering und Manufacturing, die massive Kostenvorteile bei der Herstellung vorweisen und damit eine große Wettbewerbsfähigkeit und weltweite Skalierung ermöglichen. Zu guter Letzt geht es um einen „Operate“ Ansatz, der die Anlagen und Produkte im laufenden Betrieb permanent beobachtet, optimiert und nachkonfiguriert. Zudem spielt die Analyse von Betriebsdaten in Echtzeit sowie die Fähigkeit über Software sofort zu reagieren, eine enorm wichtige Rolle. Erst auf dieser Basis können Unternehmen ihr Verständnis der damit verbundenen Wertschöpfungsketten einsetzen, dadurch Plattformen entwickeln, den Kundennutzen erhöhen und Netzwerkeffekte nutzen. Erst dadurch werden umfängliche, neue Leistungsversprechen und digitale Geschäftsmodelle möglich.

Summa summarum stelle ich fest: Deutschland hat nach wie vor eine große Chance, seinen aktuellen Spitzenplatz in der Wirtschaft auch in einem Industrie-4.0-Kontext beizubehalten. Im industriellen Internet der Dinge, das noch ganz am Anfang steht, haben deutsche Unternehmen alle Möglichkeiten der Welt, die Daten ihrer Maschinen, Anlagen und Produkte zu aggregieren, zu verwerten und daraus neue und profitable Geschäftsmodelle zu entwickeln. Wichtig hierbei ist, dass wir uns auf unsere Stärken besinnen, Hürden beseitigen und endlich durchstarten.

Dieser Artikel stammt von unserem Partnerportal Marconomy.

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